ENTEGA

Der Kalender „2093“

Das Jahr 2093 wird dem Jahr 2009 vollkommen gleichen. Zumindest, was die Kalendertage angeht. Ansonsten dürfte sich allerdings einiges verändern – wenn wir nicht jetzt schon anfangen, verantwortungsvoller mit unseren Ressourcen umzugehen. Wie der Alltag im Jahre 2093 aussehen könnte, zeigen wir mit zwölf Geschichten, die eigentlich erschreckende Lebensumstände ganz beiläufig beschreiben.

Winter Adé!

Heute Morgen, als ich zum Bäcker gerudert bin, war’s draußen noch ungewöhnlich kühl – bestimmt nicht mehr als 25 Grad. Wobei, vielleicht ist es mir auch nur so vorgekommen. Weil die kleine Malaria-Welle, die gerade umgeht, hat mich leider auch ein bisschen in Mitleidenschaft gezogen. So oder so – ich hab mir eingebildet, ich kann dieses Gefühl ein bisschen nachvollziehen, von dem mein Opa immer erzählt hat: Als er noch jung war, sei den Menschen manchmal „kalt gewesen“. Dass man sich nicht so dick eingepackt hat, um sich vor der Sonne zu schützen, sondern um's warm zu haben. Seltsame Vorstellung. Völlig andere Welt, möchte man fast meinen. Auch das mit den Überschwemmungen war damals noch gar nicht jedes Jahr. Aber wir haben uns natürlich längst dran gewöhnt. Es hat ja auch durchaus was für sich: Die Kinder können direkt vor dem Haus Wasserball spielen. Keiner schaut schräg, wenn der Rasen mal nicht akkurat gemäht ist. Und wenn man morgens zum Bäcker rudert, kann man sich auf dem Rückweg gleich ein Fischbrötchen machen.

CHIC EN PLASTIQUE

Genau zehn Jahre ist es jetzt her, dass ich meiner Frau den Antrag gemacht habe. Insofern ist der Valentinstag dieses Mal etwas ganz Besonderes – was man auch über die Erwartungshaltung in Sachen Geschenk sagen könnte. Aber ich hab schon was im Auge: eine echte Plastiktüte, original zwanziger Jahre. Supermarkt-Qualität, mit buntem Aufdruck und verstärkten Henkeln. Muss man sich mal vorstellen: So was haben die Leute früher einfach weggeschmissen. Aber seitdem mit dem Erdöl Feierabend ist, liegen die Dinge natürlich etwas anders. Realistisch betrachtet übersteigt so ein extravagantes Geschenk meine finanziellen Möglichkeiten bei Weitem. Ich hab ja schon ernsthaft drüber nachgedacht, Opas Regenmantel dafür zu versetzen. Unser kostbarstes Familienerbstück – auch Original-Kunststoff. Wobei, das wäre schön blöd, wenn man bedenkt, wie das Zeug heutzutage im Wert steigt. Davon wollten wir den Kindern später mal das Studium finanzieren. Vielleicht kaufe ich ihr doch lieber ein paar Rosen. Ebenfalls eine ziemliche Rarität, seit sie draußen nicht mehr wachsen. Und die Scheichs mit ihren Gewächshäusern sich das Rosenmonopol gesichert haben, um die Preise zu diktieren. Da muss ich mich auch ganz schön strecken – aber wie gesagt: Es ist unser Zehnjähriges.

UNTERIRDISCH GLÜCKLICH

Es ist März – die Zeit der Herbststürme. Im Moment zieht gerade „Wyprecht“ übers Land. Ich meine, war ja klar, dass die Frauennamen irgendwann ausgehen. Aber „Wyprecht“ – sieht ganz so aus, als wäre bei den Männern das Ende der Fahnenstange auch langsam erreicht. Sei’s drum, uns tangieren die Stürme dieses Jahr wenig. Wir haben jetzt endlich eine Kellerwohnung gefunden.
War schwer genug, klar, jeder reißt sich drum. Die Überlegung war sogar schon, ob wir nicht in eine von diesen neuen Tiefhaus-Siedlungen ziehen sollen. Aber die sind halt ganz schön weit ab vom Schuss. Umso glücklicher sind wir jetzt, dass wir ganz zentral was gefunden haben. Eigentlich läuft so was ja auch nur über Beziehungen. Und für ein komplett wasserdichtes Angebot haben die bei uns leider nicht gereicht. Insofern müssen wir bei der nächsten Überschwemmung vielleicht auch mal für einen Monat raus. Aber immer noch besser, als mit einem Penthouse vorliebnehmen zu müssen. Zugegeben, der Ausblick hier unten lässt etwas zu wünschen übrig. Andererseits: Wenn „Wyprecht" erst mal mit uns fertig ist, gibt’s da oben eh nicht mehr allzu viel zu sehen.

DER HUND IST KEINE ENTE

Die ganze Welt schaut auf den kleinen Rex. Endlich gibt es mal wieder ein Hundebaby. Und so ein süßes noch dazu. Vor dem Freigehege drängen sich die Massen, besonders an so einem Ostersonntag. Lange darf der Welpe natürlich nie raus, aus seinem klimatisierten Stall. Wenn du von der Evolution ein dermaßen dickes Fell mit- bekommen hast, kannst du in diesen Breitengraden leicht vor die Hunde gehen, sag ich mal. Aber die Zoo-Leute tun alles, damit der Kleine es trotzdem packt. Ja, auch weil er ihnen ordentlich Geld in die Kassen spült. Aber diese ewige Kommerzialisierungs-Diskussion – ich kann’s einfach nicht mehr hören. Da streiten sie doch schon seit hundert Jahren drüber. Und meiner Meinung nach ist es absolut verdient. Weil, was die für den Artenschutz so alles tun, da muss man sagen: Hut ab. Das mit dem Hund war jetzt kein Zufallstreffer. Die kriegen das immer wieder hin, auch mit anderen Exoten: Hauskatzen zum Beispiel oder sogar Tauben. Für die Kinder war unser Ausflug jedenfalls ein Fest. Gerade weil Ostern selbst für sie leider an Zauber verloren hat. Früher gab’s wenigstens noch diese faszinierende Geschichte vom Osterhasen, der herumhüpft und bunte Eier versteckt. So ein Märchen kannst du heute natürlich keinem mehr auftischen. Weil selbst das kleinste Kind weiß, dass es bei uns keine Hasen gibt.

DER MAI MACHT, WAS ER WILL

Gestern hab ich im Wetterbericht gewonnen. Gut, für den ganz großen Wurf hat’s nicht gereicht, aber ein paar Kreuze für den Mittwochvormittag waren immerhin richtig. Schneeregen und Gewitter zum Beispiel, aber das sind ja ziemlich sichere Tipps. Dass ich mit dem Orkan nicht falsch liegen würde, war auch keine große Überraschung. Ebenso wenig der Hagel. Wobei sie erst noch den Notar bemühen mussten, um festzustellen, ob’s nicht doch eher Graupel war. Aber dann kam eben kein Regen, sondern nur noch Sonne. Und das stundenlang, sensationell. Na ja, es ist kein Wunschkonzert, auch wenn das „Wetterfee“ heißt. Da ist es leichter, 60 Jahre alt zu werden, als mal sechs Richtige zu erwischen. Wenn ich das jetzt mit dieser historischen Nachrichtensendung vergleiche, die neulich im Fernsehen kam ... Alleine, das Wort „Wetter“ mit „Vorhersage“ zu kombinieren, ist ja schon ein Knaller. Und welch beeindruckende Schlichtheit! „Heiter bis wolkig“ war da schon mit die komplizierteste Diagnose. Aber Wetter dann auch noch für Tage im Voraus zu prophezeien – das hat aus meiner Sicht den Vogel endgültig abgeschossen. Ich meine, da würde dir ja jeder den Jackpot knacken. Andererseits, was würde ich denn überhaupt anstellen mit dem ganzen Geld? Früher hätte man sich wahrscheinlich eine Insel gekauft. Aber das macht bei dem Wetter wirklich keinen Sinn mehr. 

REIN INS GRÜNE

Der Juni fängt gut an. Pfingstmontag, ich habe frei. Endlich mal wieder ein wenig durchatmen – und das geht immer noch am besten ohne Schutzmaske. Deshalb haben wir uns gesagt: nichts wie rein ins Grüne! Und sind alle miteinander ab nach „Nature World“. Meiner Meinung nach ist das von allen Freizeitparks mit Abstand der beste. Das komplette Gelände überkuppelt und voll klimatisiert. Smog adé! Wunderschön ist das, wirklich, ein unglaublich befreiendes Gefühl. Man kann richtig weit in die Ferne schauen. Bestimmt so 100 Meter. Und oben an die Decke haben sie blauen Himmel gemalt, der – wenn mir meine Erinnerung keinen Streich spielt – ziemlich echt aussieht. Der Spaß ist natürlich nicht gerade billig, aber dafür gibt’s auch Attraktionen en masse. Enten füttern, zum Beispiel. Echte Enten meine ich, nicht diese mechanischen Attrappen, die draußen den Stadtpark lebendiger machen sollen. Dementsprechend lang war dann leider auch die Schlange. Wir haben uns lieber nicht angestellt, um noch genug Zeit für die anderen Highlights zu haben: Bäume, Sträucher, hin und wieder sogar Blumen. Ein Traum. Da könnte sich Mutter Natur für draußen wirklich mal eine Scheibe abschneiden. 

URLAUBSZEIT – REISEZEIT

Eigentlich wollten wir ja Sardinien buchen. Aber das war schon weg. Woran das jetzt genau liegt – ich weiß es nicht. Schuld sind angeblich die Gletscher, die alle weggeschmolzen sind und dadurch das Gleichgewicht der Erdplatten etwas aus dem Lot gebracht haben. Was dann zum Beispiel Vulkanismus nach sich zieht. Oder eben dass sich die eine oder andere Insel mal recht spontan verabschiedet. Zusammenfassend könnte man sagen: Italien wird dem Ruf einer gewissen Unzuverlässigkeit mittlerweile auch im geographischen Sinne mehr und mehr gerecht. Ich meine, da haben wir uns früher aufgeregt, wenn mal ein Zug nicht kam. Heute sind wir schon froh, wenn der Bahnhof noch da ist. Damals, als es noch Kerosin gab, hätte man wahrscheinlich gesagt: „Fliegen wir halt woanders hin.“ Aber so leicht ist das eben nicht mehr. Außerdem, so eine Pizza vom frischen Lavastein, das kriegst du sonst nirgends. Und mit Perugia, wo wir jetzt letztendlich gelandet sind, haben wir auch wirklich keine schlechte Wahl getroffen. Die Erde bebt nur hin und wieder, und das meistens recht sanft. Außerdem ist fast die halbe Stadt noch völlig intakt. Hier lässt sich's aushalten. Könnten wir fast nächstes Jahr wieder hinfahren. Wobei – vielleicht taucht ja Sardinien bis dahin auch wieder auf. 

ENDLICH WIEDER FLÜSSIG

Heute Morgen hab ich drei Liter fünfzig auf der Straße gefunden. Einfach so. Unfassbar! Ich war wohl der Erste, der da vorbeikam. Andererseits, bei 60, 70 Grad im Schatten sind auch nicht so viele Leute unterwegs, draußen. Es sind Tage wie dieser, die dir klar machen, warum die weltweit härteste Währung heutzutage flüssig ist. Ich rede hier natürlich nicht von Wasser im Allgemeinen – über zu niedrige Meeresspiegel oder einen Mangel an Überschwemmungen können wir uns weiß Gott nicht beschweren – nein, um Trinkwasser geht’s. Sauberes, uneingeschränkt genießbares Trinkwasser. Das ist mit Gold mittlerweile nicht mehr aufzuwiegen. Insofern war dieser Fund natürlich eine Riesensache. Nicht dass ich’s jetzt dringend nötig hätte – mit meinen 180 Litern im Monat verdiene ich ja nicht schlecht – aber ein bisschen was extra schadet nie, gerade wenn man Familie hat. Hier und da will man ja auch was zurücklegen. Deswegen ist es, glaube ich, besser, wenn ich meiner Frau nicht erzähle, dass ich einem Straßenmusikanten was abgegeben habe. Konnte ich einfach nicht anders. Der steht da und spielt „Singing in the rain". Spaßvogel. Dafür hat er sich meines Erachtens wirklich was verdient. Ich hoffe bloß, er versäuft’s nicht gleich wieder. 

SCHÖN SEIN IST SCHWER

Heute Morgen auf der Waage hat mich fast der Schlag getroffen. Ich hab schon wieder abgenommen. Dabei gebe ich mir doch wirklich alle Mühe. Ich bewege mich mittlerweile so gut wie gar nicht mehr. Bloß keine unnötige Kalorienverbrennung. Und zwecks Motivation habe ich mir sogar extra eine XXL-Hose gekauft. Mein größter Traum ist es, die irgendwann mal komplett auszufüllen. Ich weiß, das klingt jetzt albern – aber ich würde gerne so aussehen wie die Menschen in der Werbung. Obwohl ich ganz genau weiß: So füllig kannst du in Wirklichkeit gar nicht werden. Das ist doch alles retuschiert. Wie soll man denn bitte schön einem derart überzogenen Schönheitsideal gerecht werden? Vielleicht durch diese Dickmacherpräparate – „Zwei Kilo mehr in nur zwei Wochen“ und dergleichen? Wer’s glaubt. Und selbst wenn, gesund ist das ganz bestimmt nicht. Die wesentlich vernünftigere Methode wäre sicher, einfach regelmäßig zu essen. Aber was heißt hier „einfach“, wenn in den Supermarktregalen schon wieder Ebbe herrscht. Na ja, kann sich ja demnächst ändern, wenn die anstehende Ernte mal wieder besser wird. Nur: Das sagen wir jetzt auch schon seit ein paar Jahrzehnten. 

VOM PILZEFINDEN

Heute waren wir mit der ganzen Familie im Wald, auf Pilzfindung. Suche kann man das beim besten Willen nicht mehr nennen, so groß wie die Dinger plötzlich geworden sind. Manche sagen ja, es hängt mit diesen durchgerosteten Fässern zusammen, die sie da vor einiger Zeit ausgegraben haben – so gelb, mit seltsamen schwarzen Blumen-Symbolen drauf. Klingt ein bisschen nach Verschwörungstheorie, wenn du mich fragst. Kann man davon halten, was man will. Andererseits: Dass man die Pilze jetzt nicht mehr essen sollte, entspricht definitiv der Wahrheit. Diejenigen, die das am Anfang nicht geglaubt haben, würden sich wahrscheinlich am liebsten bis heute die Haare raufen. Wenn sie noch welche hätten. Aber dafür gibt es jetzt ja auch völlig neue Verwendungsmöglichkeiten für Pilze. Wir sammeln sie, um sie auszuhöhlen und Gesichter reinzuschnitzen – Halloween steht vor der Tür. Und im Vergleich zum guten alten Kürbis hat so ein moderner Steinpilz eigentlich nur Vorteile. Von der Größe her sowieso, vor allem aber braucht man keine Kerze mehr reinzustellen. Weil der leuchtet von selbst. 

KEIN EIS IST EWIG

Nach zwei Wochen Urlaub bin ich richtig schön blass geworden. Ich freue mich jetzt schon auf den Neid der Kollegen. Allein dafür hat sich die Nordpol-Kreuzfahrt auf jeden Fall gelohnt. Jetzt, wo hier die Sonne nie aufgeht, ist eben auch die beste Jahreszeit. Eine endlose, laue Polarnacht, herrlich milde Temperaturen. Lichtschutzfaktor 20 reicht völlig aus, das spürst du fast gar nicht auf der Haut. Und auch für Unterhaltung ist gesorgt: Das Schiffs-Maskottchen, ein uralter, kauziger Matrose, erzählt jeden Abend die unglaublichsten Schauergeschichten. Von gigantischen Eisbergen, die früher sogar mal einem ausgewachsenen Kreuzfahrtschiff den Garaus gemacht haben sollen. Schon klar. Und auf dem Rieseneisberg feiert wahrscheinlich der Klabautermann mit dem Fliegenden Holländer eine lustige Party. „Seemannsgarn“ wäre dafür wohl der Fachbegriff. Die Realität sieht anders aus – und das war gleichzeitig auch die einzige Enttäuschung an der ganzen Reise: Was sie im Katalog großspurig angekündigt haben als „Erhabenen Anblick des letzten natürlichen Eisvorkommens auf diesem Erdball“, war in Wirklichkeit bloß eine winzige Scholle. An die man nicht mal nah ran durfte. Und selbst durch das Fernglas betrachtet sah mir das doch verdächtig nach Styropor aus.

WEISSE WEIHNACHTEN

Oje, schon wieder weiße Weihnachten. Lange Zeit hat es noch so ausgesehen, als ob es dieses Jahr endlich mal grün bleiben würde. Und dann haben sie doch wieder gebrannt, die Wälder. Aber was soll’s, mittlerweile gehört die ganze Asche ja auch irgendwie mit dazu. Unser örtlicher „Verein zur Pflege alten Brauchtums e.V.“ tut wieder einmal so, als wäre es Schnee, und macht Vorführungen mit historischen Schlitten. Ein wenig albern, ja, aber irgendwie trägt dieses Nostalgische auch seinen Teil zur besinnlichen Zeit bei. Genauso wie die Flammen in den Wäldern. Gerade, wenn es dunkel wird, ist das schön heimelig. Sogar das letzte große Ärgernis – dieses ständige Geheule – hat die Feuerwehr dieses Jahr in den Griff gekriegt: Die Sirenen spielen neuerdings Weihnachtslieder. Gut, ob „Oh Tannenbaum“ dafür jetzt wirklich die allerbeste Wahl war, sei mal dahingestellt. Weil von wegen „Wie grün sind deine Blätter ...“ und all so was – da ist der Humor für meinen Geschmack dann doch eine Idee zu zynisch. Vor allem, weil unsere Kleine, die jetzt auch schon sieben ist, immer noch keinen richtigen Christbaum gesehen hat. Und gerade als Kind fehlt dir da doch was. Aber sei’s drum. Wenn man sich ein bisschen Mühe gibt mit dem Schmücken, tut’s der gute alte Kleiderständer doch genauso.